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Ernährung, Gehirnentwicklung, Diabetesrisiko: Empfindliche Prozesse im Mutterleib

Autor: Dr. Kerstin Tillmann

Das Gehirn des Fötus wird im Mutterleib durch Ernährung und Gewicht beeinflusst – bis ins hohe Alter? Das Gehirn des Fötus wird im Mutterleib durch Ernährung und Gewicht beeinflusst – bis ins hohe Alter? © Connect world – stock.adobe.com
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Dr. Rachel Lippert leitet die neue Nachwuchsgruppe „Neuronale Schaltkreise“, die am NeuroCure Exzellenzcluster der Charité – Universitätsmedizin Berlin beim DZD-Partner Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DlfE) angesiedelt ist. Im Interview mit der diabetes zeitung berichtet die Wissenschaftlerin, welche Rolle die Ernährung der Mutter auf die Hirnentwicklung ihrer Nachkommen hat und warum sie sich speziell für das Melanocortin-System interessiert. Denn sie hofft, dass ihre Arbeit langfristig dazu beitragen könnte, Ernährungsempfehlungen während der Schwangerschaft konkreter und machbarer zu gestalten.

Warum ist die Ernährung während der Schwangerschaft so relevant?

Dr. Rachel Lippert: Schon in den 1980er-Jahren hat der Wissenschaftler David Barker mit Forschungsarbeiten in einem Gebiet begonnen, das wir heute als Developmental Origins of Health and Disease bezeichnen – und die Hypothese der fetalen Programmierung begründet. Barker und weitere Forscher hatten Kinder von Müttern untersucht, die die niederländische Hungersnot im Winter 1944/45 überlebt hatten. Nachkommen der Mütter, die extrem unterernährt waren, wiesen später in ihrem Leben ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen auf. Das hat die Idee geprägt, dass das, was während der Schwangerschaft passiert, tatsächlich langfristige Auswirkungen auf die Physiologie der Kinder haben kann.

Seitdem hat sich gezeigt, dass auch Überernährung negative Effekte auf die Nachkommen haben kann. Verschiedene Studien verdeutlichen, dass Mütter, die vor der Schwangerschaft adipös sind oder während der Schwangerschaft stark an Gewicht zunehmen, Kinder zur Welt bringen, die dann ein erhöhtes Adipositas- und Diabetesrisiko haben. Außerdem weisen Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft mehr als das empfohlene Gewicht zugenommen haben, in jungen Jahren und im Alter kognitive Probleme auf und leiden häufiger an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Ich möchte verstehen, wie es durch die mütterliche Ernährung in frühen Entwicklungsphasen zu diesen langfristigen Effekten bei den Kindern kommt.

Welche Rolle spielen in diesem Forschungsbereich Tiermodelle?

Dr. Lippert: Es ist schwierig, Fragen nach langfristigen Effekten durch Beobachtungsstudien bei Menschen zu beantworten – die Kinder müssten bis ins Erwachsenenalter begleitet werden. Derzeit sind wir daher auf die Erforschung von frühen Entwicklungsphasen beschränkt. Um aber die langfristigen Effekte von mütterlicher Ernährung zu verstehen, ist es wichtig auf Tiermodelle zurückzugreifen. Denn so können wir Effekte über die Spanne eines ganzen Lebens und sogar über Generationen hinweg beobachten.

Welche Fragestellungen untersuchen Sie genau?

Dr. Lippert: Ich gehe zwei Schwerpunkten nach: Zum einen untersuchen wir in meinem Labor, wie die mütterliche Ernährung auf die Entwicklung des Gehirns ihrer Nachkommen wirkt. Dabei wollen wir herausfinden, wie der metabolische Status während der Schwangerschaft die Schaltkreise im Gehirn der Nachkommen beeinflusst. Wir untersuchen, wie es zu den permanenten Veränderungen in der Verschaltung verschiedener Neuronengruppen kommt. Und warum dies dazu führt, dass die Nachkommen ein höheres Risiko haben, Adipositas oder Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Außerdem wollen wir wissen, wie es in diesem Zusammenhang zur Entstehung von kognitiven Problemen, ADHS oder einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADD) kommen kann.

Im zweiten Schwerpunkt geht es um eine spezifische Proteinfamilie – das Melanocortin-System. Ich möchte mehr darüber herausfinden, wie dieses System generell funktioniert und wie es mit anderen neuronalen Systemen interagiert, die an Prozessen wie Belohnung, Stress und Suchtverhalten beteiligt sind.

Warum fokussieren Sie sich auf das Melanocortin-System?

Dr. Lippert: Im Hypothalamus findet die Steuerung der Energiehomöostase statt und diese wird durch bestimmte Komponenten des Melanocortin-Systems beeinflusst. Bislang wurde das System vor allem in diesem Kontext untersucht.

Mich interessiert, welche Rolle das Melanocortin-System außerhalb des Hypothalamus spielt. Denn in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die entsprechenden Rezeptoren in Hirnregionen wie der Amygdala, dem Thalamus oder dem Mittelhirn exprimiert werden. Interessant ist, dass sich Melanocortin-Rezeptoren in Regionen befinden, die man historisch und traditionell mit Sucht und Belohnung assoziiert.

Wir konnten bereits Ergebnisse auf Basis von Mausmodellen veröffentlichen, die darauf hindeuten, dass es eine Verbindung zwischen dem Melanocortin- und dem Belohnungssystem im Gehirn gibt. Doch die zugrunde liegenden physiologischen Veränderungen, welche Signale wichtig sind und wie die Schaltkreise funktionieren, sind noch unklar.

Das führt zu der Frage, inwieweit dies für uns Menschen relevant ist. In meinem vorigen Labor konnte im Mausmodell gezeigt werden, dass eine fettreiche Ernährung der Mutter während der Stillperiode ausreichend war, um bei den Nachkommen die Verbindung zwischen dem Nucleus arcuatus im Hypothalamus und den regulierenden, Melanocortin-4-Rezeptoren exprimierenden Neuronen zu unterbrechen. Dadurch wurde also im Hypothalamus – nur diese Hirnregion wurde untersucht – die Verbindung zum Melanocortin-System unterbrochen. Und dies führte zu Veränderungen in der Glukosehomöostase der Nachkommen. Die Sensortätigkeit einer Gruppe von Neuronen war also beeinträchtigt.

Waren die Neuronen jedoch nicht in der Lage, Insulinlevel wahrzunehmen, konnten sich diese Neuronen, die an der Regulation der Glukosehomöostase beteiligt sind, normal entwickeln. Doch andere Aspekte, wie die Konnektivität mit anderen Neuronenpopulationen, waren weiterhin gestört.

Die zugrunde liegenden Prozesse müssen natürlich weiter untersucht werden, doch diese Ergebnisse deuten an, dass erhöhte Level von freien Fettsäuren und von Insulin, Leptin oder bestimmten anderen Hormonen im Mutterleib die Entwicklung von Neuronen des Fötus und deren Konnektivität beeinflussen können. Im nächsten Schritt wäre es wichtig, zu verstehen, über welche Mechanismen diese Komponenten auf bestimmte Neuronenpopulationen wirken.

Übergewicht während der Schwangerschaft ist bei uns weit verbreitet. Besorgt Sie das?

Dr. Lippert: Vor ca. zwei Jahren gab es eine Studie, in der eine Million Schwangerschaften betrachtet wurden – über 50 % der Frauen in den USA und Europa hatten mehr als die empfohlene Menge an Körpergewicht während der Schwangerschaft zugenommen. Für mich sind das alarmierende Zahlen.

Mit Blick auf Rauchen und Alkoholkonsum wurden schon zahlreiche Forschungserkenntnisse gewonnen – sehr klare Effekte, die es leicht machen, zu sagen: „Lass das bleiben!“ Wenn es jedoch um etwas so Universelles wie Essen geht, sind direkte Botschaften schwieriger.

Die Schwangerschaft ist eine sehr empfindliche Phase, die für viele Frauen auch sehr stressig ist. Eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung kann da schnell zu kurz kommen. Also müssen wir eine Grenze ausloten, ab der bestimmte Ernährungsweisen schädlich sein können. Ziel unserer Forschung ist es zukünftig, konkrete Zeiträume zu identifizieren, in denen bestimmte Entwicklungen beim Ungeborenen stattfinden und bei denen die mütterliche Ernährung besonders bedeutsam ist. Hier könnten dann entsprechende Schwerpunkte bei den Ernährungsempfehlungen gelegt werden.

Langfristig gesehen hoffe ich, dass wir so die Entwicklung von Adipositas, aber auch von kognitiven Einschränkungen in der folgenden Generation verhindern können. Die Vorstellung, dass das durch relativ einfache Veränderungen der Ernährung der Mutter möglich sein könnte, ist für mich der treibende Faktor meiner Arbeit.

Interview: Dr. Kerstin Tillmann

Dr. Rachel Lippert; Charité – Universitätsmedizin Berlin, Exzellenzcluster NeuroCure; Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DlfE) Dr. Rachel Lippert; Charité – Universitätsmedizin Berlin, Exzellenzcluster NeuroCure; Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DlfE) © privat