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Ärzte sehen Hautkrebs, wo keiner ist – Screening zu pingelig?

Autor: Dr. Angelika Bischoff/Dr. Susanne Gallus

Dermatologen führen immer häufiger Biopsien durch. Dadurch steigt die Zahl der Melanomdiagnosen. Dermatologen führen immer häufiger Biopsien durch. Dadurch steigt die Zahl der Melanomdiagnosen. © Science Photo Library/Life In View
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Als Resultat der regelmäßigen Hautkrebs-Screenings schnellt die Zahl der Biopsien nach oben. Das Ergebnis heißt immer häufiger Melanom. Zu häufig, meinen US-Dermatologen. Ist man mittlerweile übervorsichtig?

Das maligne Melanom ist in manchen Ländern nach dem Mamma- und dem Bronchialkarzinom zum dritthäufigsten Krebs avanciert. In den USA z.B. wird diese Diagnose heute sechsmal häufiger gestellt als noch vor 40 Jahren. Geht das mit rechten Dingen zu, fragt man sich angesichts der Tatsache, dass die Melanom-Mortalität in etwa gleich geblieben ist. Dr. H. Gilbert Welch vom Brigham and Women’s Hospital in Boston und Kollegen wollten der Ursache dieser „Epidemie“ auf den Grund gehen.

Der Anstieg lässt sich offenbar ausschließlich auf kutane Melanome zurückführen. Dies könnte daran liegen, dass diese eher auffallen, z.B. bei einem regelmäßigen Hautkrebsscreening. Eine Zunahme der UV-Strahlung erscheint den Autoren als Begründung eher unwahrscheinlich. UV-Strahlung verdoppelt zwar das Risiko, an einem Melanom zu erkranken, könnte aber einen Inzidenzanstieg auf das Sechsfache auch bei einer massiv erhöhten UV-Exposition nicht erklären.

Die Autoren gehen davon aus, dass vor allem eine eklatante Überdiagnostik hinter der „Melanom­epidemie“ steckt. Der Blick von Dermatopathologen für maligne Zellen sei offenbar unnötig scharf geworden. Dies lässt z.B. eine Studie vermuten, in der man neun Vertretern dieser Berufsgruppe 40 Haut­biopsien zur erneuten Evaluation gab, anhand derer man 20 Jahre vorher bereits eine Diagnose gestellt hatte. Vor allem ging es darum, dysplastische Nävi, d.h. Neoplasien in der diagnostischen Grauzone, von dünnen Melanomen zu unterscheiden. Während die Untersucher 18 Proben als Melanom klassifizierten, war diese Diagnose damals nur bei elf Proben gestellt worden. In sieben Fällen war es sogar der gleiche Dermatopathologe, für den die ursprünglich benigne Läsion 20 Jahre später eindeutig „maligne“ aussah.

Melanoma-in-situ-Inzidenz stieg um das 50-Fache

Einen weiteren Hinweis gibt eine Analyse mit Medicare-Versicherten. Medicare ist eine gesetzliche US-amerikanische Krankenversicherung für ältere (über 65 Jahre) US-Bürger und solche mit einer anerkannten Behinderung oder akutem (dialysepflichtigen) Nierenversagen. Die Zahl derer, die das für sie kostenlose Hautkrebsscreening bis 2017 in Anspruch nahmen, stieg. Gleichzeitig verdoppelte sich nicht nur der Anteil der dabei veranlassten Biopsien, sondern auch die Melanom-Inzidenz bei den über 65-Jährigen. Ein zusätzlicher Faktor für die Zunahme der Biopsien schien zu sein, ob die Dermatologen ein eigenes histologisches Labor hatten, das die Proben bearbeitete, oder nicht. Das Hautkrebsscreening zielt da­rauf ab, frühe Läsionen zu erkennen, um sie zu behandeln und damit die Entwicklung zum invasiven Melanom zu verhindern. Aber dies ist nach Meinung der Autoren nicht geschehen. Von 1975 bis heute ist die Inzidenz des Melanoma in situ um das 50-Fache gestiegen. Die Inzidenz des invasiven Melanoms ist deshalb aber nicht zurückgegangen. Vielmehr ist sie in demselben Zeitraum von 7,9 auf 25,4/100 000 gestiegen. Daraus könne man nur schließen, dass das Melanoma in situ kein obligater Vorläufer des invasiven Melanoms ist, so die Autoren. Die Melanommortalität ist dabei weitgehend stabil geblieben. Das wäre bei einem echten Anstieg der Inzidenz nicht der Fall. Es gibt sogar eine leichte Abnahme der Sterblichkeit. Zeitlich falle diese zusammen mit Durchbrüchen in der Therapie des metastasierten Melanoms­ beispielsweise durch Checkpoint-Inhibitoren und zielgerichtete Substanzen. Es dürfte sich eher weniger um eine direkte Auswirkung der Früherkennung handeln, so die Autoren. Durch die Screening-induzierte Überdiagnostik wird ein Teufelskreis angestoßen, der sich selbst verstärkt. Angesichts der scheinbaren Zunahme der Melanominzidenz gehen Menschen häufiger zum Arzt, um pigmentierte Hautläsionen untersuchen zu lassen, weil Hautkrebs ja so eine häufige Erkrankung ist. Aus Angst, einen möglichen Hautkrebs zu übersehen (und verklagt zu werden) und weil sie sich von den Sorgen der Patienten anstecken lassen, überweisen Hausärzte häufiger zu Dermatologen und diese führen aus den gleichen Gründen häufiger Biopsien durch. Der beschriebene Teufelskreis, der unterstützt durch neue Technologien zu immer mehr Biopsien und durch die geringere Dia­gnosehemmschwelle zu mehr Melanomdiagnosen führt, ist nur schwer zu durchbrechen. Und das kann für den Patienten negative Folgen haben: Biopsien hinterlassen Narben und können zu Wundinfektionen führen. Die Dia­gnose zieht für den Patienten, der nun weiter überwacht wird, eine anhaltende psychische, manchmal auch finanzielle Belastung nach sich.

Besser sprachlich deeskalieren

Darüber hinaus wird die Kapazität der Behandlungsinstitutionen mit dem Hautkrebsscreening und der weiteren Überwachung eventuell so stark beansprucht, dass die Versorgung von Patienten mit sym­ptomatischen Hauterkrankungen zu kurz kommt. Ein Vorschlag der Autoren, wie man dieser Entwicklung z.B. aufseiten der überbesorgten Patienten entgegensteuern könnte, wäre eine „sprachliche Deeskalation“. Das würde bedeuten, dass man in den Grauzonen statt einem Melanoma in situ z.B. besser von einer melanozytischen Neoplasie spricht. Außerdem sollte die Entscheidung zur Biopsie nicht leichtfertig erfolgen oder um den Patienten zufriedenzustellen. Insgesamt betonen sie aber, dass es ein komplexer Prozess sein wird.

Quelle: Welch HG et al. N Engl J Med 2021; 384: 72-79; DOI: 10.1056/NEJMsb2019760

Die Post-Pandemiezeit wird’s zeigen

Die Datenlage zum Thema Todesfallraten mit und ohne Screening ist mau, befand Professor Dr. Axel Hauschild vom Dermatologikum in Kiel auf dem 14. Dermatologie-Update-Seminar in Mainz. Fehlende Studien dürfe man aber nicht mit fehlender Wirksamkeit gleichsetzen. Zumal das maligne Melanom nicht der einzige Hauttumor ist, der bei einem Screening entdeckt werden kann. Dank Videoauflichtmikroskopie und KI-Systemen gelingt es, die Rate an falsch-positiven Melanomdiagnosen und -exzisionen immer weiter zu senken. Und kommt es doch einmal zu einer nicht notwendigen Exzision, hält sich der dadurch verursachte Schaden in Grenzen, so der Dermatologe. Dafür, dass es beim malignen Melanom überhaupt indolente Formen gibt, wie beim Prostata-Ca, gibt es keine Hinweise, betonte der Kollege. Das lasse sich aber durch klinische Studien auch nicht klären, da ein Zuwarten bei der Diagnose malignes Melanom ethisch schlichtweg nicht vertretbar ist. Vielleicht ist neben der Überdiagnose auch die bessere Prognose durch die frühere Therapie eine mögliche Ursache für die Schere zwischen Inzidenz und Mortalität. Aus Sicht des Kollegen bietet die aktuelle Pandemie die Chance, die Vorteile eines regelmäßigen Screenings, wie es in Deutschland (nicht aber in den USA) gesetzlich implementiert ist, zu erkennen. Die Zahl der Melanomdiagnosen hat sich seit der Pandemie um etwa 50 % reduziert. Wahrscheinlich wird man daher postpandemisch vermehrt dickere und damit prognostisch ungünstigere Hauttumoren finden, mutmaßte Prof. Hauschild. Das wäre nicht nur eine finanzielle Mehrbelastung für das Gesundheitssystem, sondern würde auch Morbidität und Mortalität wieder steigen lassen.

Autorin: Dr. Susanne Gallus